Sonntag, 25. März 2012

6700 Kilometerzeit


Nach unserer Reise kommt mir Indien gar nicht so groß vor. Wir sind ohne Beschwerden durch das ganze Land gefahren, und haben dabei dreimal durch reinen Zufall Menschen getroffen, die wir kannten. Wir haben in unserem Reisemonat, dem Februar, sowieso unglaublich viele Menschen getroffen und kennengelernt, aus allen möglichen Ländern. Menschen aus Indien, aus der Türkei, aus Nepal, aus Südkorea, aus Japan, aus Afghanistan, aus Kasachstan, aus Russland, aus Polen, aus Deutschland, aus der Schweiz, aus Frankreich, aus Italien, aus Brasilien, aus Argentinien, aus Schottland, aus England, aus Israel, aus Dänemark, aus Jersey, und aus Surinam.
Damit habe ich vorher nicht gerechnet, dass so viele Menschen aus der ganzen Welt durch Indien reisen, und dass man auf einer Indienreise so viele Menschen aus der ganzen Welt kennenlernen kann.




Der Tourismus ist für viele Menschen hier ein Haupteinkommen. Es werden einem Bootsfahrten, Trommeln, Klamotten, Schmuck, Massagen und alle möglichen Arten von Drogen mitten auf öffentlichen Plätzen um 12 Uhr mittags angeboten. Das war manchmal sehr, sehr anstrengend, wenn man alle 5 Meter am Ganges gefragt wurde: „My friend, boat? Yes?“, „You want a boat ride? You want some LSD, speed, hash?“, und man sich dann alle 5 Meter entweder die Mühe machte zu sagen „No thanks, I’m fine.“, oder den Schritt beschleunigte, um sich mit entschlossener Miene zu entfernen. So manches Mal schmunzelte ich nach derartigen Begegnungen über die Angebote der Damen und Herren, und vor allen Dingen darüber, wie sie mir diese Angebote unterbreiteten. „Yes, you want something?“, „Looking is free. Come, see my shop!“, „Boat?“
Andere Male war ich verärgert und genervt.  Ich war traurig darüber, wie wir in so manchen derartigen Begegnungen mit Verkäufern nur als gut gefülltes Portemonnaie gesehen wurden. „Come, come, I will help you to lose your money, my friend.“ Wie eine fette Kuh, die alle gleichzeitig melken wollen, wenn sie angeschlendert kommt.


In wieder anderen Begegnungen haben wir uns mit den Verkäufern unterhalten, bevor wir etwas kauften. Das war schön, aber zum Einkaufen nicht günstig.
Wir haben ein Mädchen getroffen. Sie war genauso alt wie wir und hatte einen kleinen Laden. Nachdem wir uns eine halbe Stunde mit ihr unterhalten hatten, und sie uns erzählte, dass sie seit Jahren den Laden alleine führte, ihre Eltern ganz woanders wohnen würden sie kaum eine Schulbildung hätte, und dass sie sehr einsam sei, konnten wir nicht mehr mit ihr so verhandeln, wie wir es sonst taten. Normalerweise waren wir darauf aus, hart zu verhandeln. Wir wollten den wahren Preis kriegen, wollten uns nicht über’s Ohr hauen lassen. Das konnten wir bei ihr nicht mehr machen.
In den Momenten, in denen man das Dreifache wie ein Einheimischer bezahlen soll, findet man das ungerecht, aber mittlerweile fühle ich mich komisch dabei, wenn wir mal wieder am feilschen sind, um 5 oder 10 Rupien. Es ist zwar Teil der Kultur in Indien ausgiebig zu verhandeln, aber auf der anderen Seite halte ich es für einen falschen Anspruch, den selben Preis wie Einheimische bekommen zu wollen. Wir sind Gäste.


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Und Gast sein in Indien ist oft sehr schön.
Eines Nachmittags standen wir in Delhi in strömendem Regen an einer 4 spurigen Hauptstraße und suchten den Weg zur Metro. Wir wussten überhaupt nicht, wo wir waren, als mich jemand ganz plötzlich unruhig von der Seite nach meinem Namen fragte. „What’s your name?“ Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch. Es war nass, wir waren nass und wir wollten einfach nur zur Metro, die in Delhi übrigens ziemlich nett ist. Das sagte ich ihm dann, und er antwortete darauf: „Alright, then come follow me.“ Er zeigte uns den Weg direkt bis zur Bahn, den ganzen Weg an der Hauptstraße entlang, der vollgestellt war mit Motorrädern, Handkarren und Rickshaws, Menschen und bestimmt auch von Kühen, obwohl die sich im Regen gerne unterstellen. Eigentlich musste er wohl ziemlich in die andere Richtung.
Im Zug nach Delhi lernten wir einen jungen Arzt kennen. Als wir gemeinsam ausstiegen, brauchte er uns zu unserem Hotel.
Als wir in Varanasi auf dem Campus der Benares Hindustan University umher irrten, lud uns eine junge Frau in ihr „Department of Performing Arts“ ein, und setze uns zum Zuschauen in eine Gesangsstunde.
Ein anderes Mal, wieder im Zug, lernten wir eine Familie aus Rajasthan kennen, die uns unbedingt Frühstück für den nächsten Tag mitgeben wollte. Am nächsten Morgen waren wir dankbar.

Angeena und Kollege
Die Begegnung, die wir mit Angeena hatten, werde ich nicht vergessen. Angeena  verkauft neben der Schule giftgrüne Uhren und Elefantenketten an Touristen. Wir haben sie in Amer, einer kleinen Stadt vor Jaipur in Rajasthan, getroffen.
An dem Tag sind wir früh morgens nach Amer gefahren, weil dort Szenen für einen Bollywoodfilm gedreht werden sollten, und zwar mit dem Sohn des großen Amitabh Bachchan, Abishek Bachchan.
Bevor wir den halben Tag am Set standen, hatten wir Lust noch etwas zu essen. Frühstück ist keine schlechte Sache. Auf dem Weg zu Dosas mit Coconut-Chutney wurden Hannes und ich von Angeena angesprochen. Wie heißt ihr?, Wo kommt ihr her?, und so weiter. Ich dachte, sie will uns bestimmt irgendwas verkaufen, sie hatte schreckliche giftgrüne Plastikuhren dabei, diverse Ketten und eine Plastiktüte mit einer weiteren Ladung Touristenkitsch. Doch der Satz „Yes? You want something? Take a watch.“, dessen Aussprache aus meiner Sicht in dem Moment der Grund war, warum sie uns ansprach, kam nicht. Wir haben uns unterhalten, sie hat erzählt, was sie in der Schule machte, wir haben erzählt, was wir in Indien bis jetzt erlebt hatten, sie hat erzählt, was sich am besten an Touristen verkaufen ließe. Sie hatte einfach nur Lust mit uns zu reden, und so gingen wir mit ihr durch die Gegend und zusammen zum Filmdreh, wo wir ihre kleine Gang kennenlernten.  Mit den Kindern liefen wir nach dem Dreh noch durch Amer und machten Fotos mit ihnen. Wir schlenderten zusammen zum lokalen Fotoladen, um Abzüge für alle machen zu lassen. Und während wir auf die Fotos warteten, bestanden die Kinder darauf, von ihrem Geld für die ganze Mannschaft Chai zu holen. Das haben sie dann auch durchgezogen, unser Geld wollten sie nicht. Und so tranken wir dann gut gesüßten Plain Chai vor einem Fotoladen in Amer, ausgegeben von Angeena und ihren Freunden.
Das war ein schöner Tag. Abishek Bachchan erschien mir etwas unfreundlich, er wollte keine Autogramme verteilen. Und bei Angeena habe ich am Ende noch die hässliche grüne Uhr gekauft. Sie trägt genauso eine.


Die riecht unglaublich penetrant nach Weichmacher, diese Uhr.

Angeena erzählte an unserem Abishek-Bachchan-Tag, dass bestimmte Touristengruppen bei ihr kaufen, und andere nicht. Da habe ich hier auch so meine Erfahrungen gemacht. Es gibt viele Reisende, die in Indien suchen. Einige suchen nach Spiritualität, andere suchen das „wahre Indien“, abseits von den ganzen Touristenstätten. Letztere sind manchmal ganz besondere Burschen, besonders dann, wenn sie im Lonely Planet India nach Off-Beat-Touren blättern.
Dieses blaue, dicke Buch schleppt fast jeder Indientourist mit sich herum. Darauf hat sich auch das Land eingestellt. Viele Restaurant- und Hotelbesitzer haben an ihre Wände in dicker, blauer Farbe „Highly Recommended by Lonely Planet“ pinseln lassen, sobald ihr Geschäft Erwähnung im meistverkauftesten Reiseführer der Welt gefunden hatte. Der Lonely Planet hat durch die Empfehlungen, die er ausgibt, eine unglaubliche Macht. In Jodhpur gibt es einen kleinen Stand am Marktplatz, in dem Omeletts verkauft werden. Seitdem ein Kollege vom Lonely Planet dort gespeist und es in sein blaues Buch geschrieben hat, verkauft der Mann vom Omelettshop mehr als 1000 Eier pro Tag und hat im Hinterzimmer seiner Bude ein Internetcafé eröffnet. Vor zwei Jahren wurde dem Herrn eine ganze Seite in der „Süddeutschen Zeitung“ gewidmet. Alles nur wegen dem Lonely Planet.
Die Ambition der Reisenden, die das „wahre Indien“ suchen, ist interessant, doch leider werden sie es nie finden.
Sobald diese Reisenden tatsächlich einen Ort gefunden haben, der noch nicht vom Tourismus beeinflusst wird, leiten sie durch ihre Ankunft an einem solchen Ort diese Entwicklung ein.
Es gibt in Indien auch Touristen, die gefunden haben. In einer engen Gasse kam uns ein Mann entgegen, der zu jedem, der ihm entgegen kam, rief „I can finally sense the energy. Can you feel it? Can you feel it? It’s magic! I can sense the energy now.“ Diesen Herrn sprachen die Shopbesitzer nicht an. Wir waren auch etwas verwundert.
Ein anderer Herr kam nach Indien, um sich auf ein Jahr des Schweigens vorzubereiten. Als wir ihn trafen, unterhielt er sich gerade mit einem Yogameister über sein Vorhaben.
Das war eine interessante Begegnung, der Herr kam aus Surinam.
Als wir in Goa in einen Bus einsteigen wollten, kam ein recht kräftiger Europäer aus dem Bus ausgestiegen und vor ihm ging ein Busmitarbeiter, der den Herren wohl angerempelt hatte. Darauf antwortete der Europäer mit „Du Scheißarsch, du.“, auf bayrisch. Hier in Indien findet man viele verschiedene Touristen, die muss man nicht suchen.
In Mumbai sprach uns ein Belgier an, der nach Indien kam, um in indische Freizeitparks
zu gehen. Ich war beeindruckt von seiner Kenntnis über viele, viele Freizeitparks in Deutschland, von denen ich noch gehörte hatte. Nach Indien für Freizeitparks zu fliegen finde ich ziemlich abgefahren. Hier gibt es nicht sonderlich viele, hat er uns erzählt.

Viele Touristen, wir auch, haben das Bedürfnis möglichst tief in die indische Kultur einzutauchen, und decken sich deswegen mit Klamotten ein. Das interessante dabei ist, dass Alibaba-Hosen und Batikhemden bloß von fast keinem Inder getragen werden.
Das kann dann bei so manch einem zu ernüchternden Momenten führen, auf der Suche nach dem „wahren Indien“.

Weil ich hier schon ein halbes Jahr lebe, habe ich mich nicht zur Gruppe der vielen Touristen zugehörig gefühlt. Ich habe „die Touristen“ beobachtet und manche hier beschrieben. Und auch wenn ich mich nicht so fühlte, gehörte ich dazu. Ich glaube, das denken viele Touristen, sie wären in richtigem Kontakt mit dem Land und die anderen wären alle bloß gewöhnliche Touristen. So kam es oft zu fragenden, sehr skeptischen Mienen, wenn sich die Blicke trafen, unter uns Touristen.

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