Samstag, 24. September 2011



So wie der junge Mann unter der Haube seines sonnengelben Busses steht, fühlte ich mich gestern.
Wir waren wieder mit Sunanda auf Krankheitenkatalogisierungsfahrt. Dieses Mal sind wir sehr, sehr weit gefahren.
Im ersten Dorf wurden wir noch vor 10 Uhr morgens von einem besoffenen Anwohner recht aggressiv zugetextet. Kein Bier vor vier gilt hier nicht.
Für den schweren Weg zum Feld muss man Kraft tanken. Deswegen wird morgens nach dem Frühstück selbstgebrauter Reiswein/-schnaps eingenommen. Und abends auch. Zum Ausspannen.

Nach diesem Einblick unter die Haube des indischen Feldarbeiterlebens und in die Dorfalkoholszene ging es in das nächste Dorf.
Dort angekommen, erzählte uns ein älterer Herr, dass 75% der Einwohner unter Epilepsie leiden würden. Fünfundsiebzig Prozent.

Nachdem sich inzwischen ein um Geld bittender Sitaspieler ungefragt zu uns gesellt hat, und anfing zu spielen, kreierte dieser genau die seltsam mystische Stimmung, die der ältere Herr scheinbar brauchte, um mit dem, was er erzählen wollte, fortzufahren.

Er erzählte uns nämlich, dass diese Fünfundsiebzigprozent der Gemeinschaft immer exakt am Vollmond ihre Anfälle bekommen würden.
Ein merkwürdiger Vormittag war das.

Vom Teekampftrinken, Guerillas und Beamtenportemonnaies


Bei einem von inzwischen zahlreichen Dorfbesuchen der letzten Zeit erstreckte sich unser Aufenthalt bis zur Dämmerung. Sunanda und den Fahrer machte das sehr unruhig. Das merkte man richtig. Die Bewohner des Dorfs boten uns noch Tee an, der wurde schnell runtergekippt, und dann hieß es auf einmal im Laufschritt ab zum Auto.
Als ich Sunanda fragte, warum wir uns so beeilen müssten, hieß die Antwort nur: „Hurry up, Hurry up, I tell you in the car..“
Als wir dann unseren Mahindra Bolero mit ohne Anschnallgurt abgehetzt erreichten, erklärte Sunanda uns den Grund für die ganze Eile.

In manche Dörfer hier in der Gegend kommen abends, zur Zeit der Dämmerung, Maoisten.
Die Maoisten, andere Bezeichnung Naxaliten, sind eine militante, guerilla-ähnliche Gruppierung. Sie versuchen mit Gewalt den indischen Staat zu „revolutionieren“ (wie sie es sicher sagen würden). Und zwar nach ihrer Interpretation der Thesen Maos.
Ihr Hauptanliegen ist es, die Armen der ländlichen Gegenden zu stärken und sich für sie einzusetzen. Deswegen gehen sie in die Dörfer, um mit den Menschen aktuelle Anliegen zu diskutieren.
Für uns sind Begegnungen mit Maoisten deswegen unangenehm, weil sie dann versuchen alles über einen herauszufinden, und einen, wenn man denn ungünstige Antworten gegeben hat, auch gerne verfolgen.
IRDWSI genießt einen sehr guten Ruf in der Gegend, gerade bei der Dorfbevölkerung.
Die Organisation arbeitet mit Dörfern zusammen, von denen der Staat im Vorfeld gar nicht wusste, dass sie existieren.
Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass wir Probleme mit dieser guerilla-artigen Vereinigung bekommen, aber da sollte man lieber jedes Risiko vermeiden.
Wenn sie nämlich den Eindruck gewinnen, dass man irgendwie von der Regierung kommt, hat man sehr schlechte Karten.
Lehrer, die ihnen nicht gefallen, verschwinden mal für eine Woche im Wald. Regierungsautos kriegen es mit Landminen zu tun.

Der Hass auf die Regierung ist groß in den ländlichen Gegenden Indiens, was den Maoisten eine ausgezeichnete Rekrutierungsgrundlage bietet.
Das Problem, das Indiens Regierung hat, ist die Korruption. Eigentlich bietet sie den ländlichen Gegenden viele Subventionen. Das Problem dabei ist, dass davon nur 20% ankommen, der Rest versickert in Beamtenportemonnaies.
Das macht sauer. Richtig sauer. Und agressiv. Da greift ein Maoist gerne zur Axt.
Hier in der Gegend gibt es eine Schule. Auch sie erhielt staatliche Subventionen.
Zu seinem eigenen Unglück steckte sich der für die Verteilung zuständige Collector einen nicht unerheblichen Teil in sein Beamtenportemonnaie. Mit der Konsequenz: Kopf ab.
Und damit das niemand nochmal macht, ließen die Maoisten seinen Kopf auf der Straße vor der Schule liegen.
Nach dem Mordanschlag gingen die Korruptionsfälle in der Gegend drastisch zurück. Gut für die Bevölkerung.

Doch es bleibt die Frage offen, ob der Mensch wirklich so primitiv ist, dass es keinen anderen Weg zur Lösung gibt, als Kopf ab. Ahimsa scheint die Maoisten nicht sonderlich zu begeistern.

Ein anderes Mal tötete ein Maoist einen auch bei IRDWSI angesehenen Beamten, weil der den Bauarbeiten für sein Haus zu wenig Geld gegeben hätte.
Vor der Baustelle seines Hauses steht heute ein Denkmal. Die Tat verstand niemand. Auch nicht die Bauarbeiter.

Gegen die Korruption kämpft zur Zeit auch ein älterer Herr. Auf friedliche Art. Auf nationaler Ebene. Sein Name ist Anna Hazare.

Er hat ein neues Gesetz entworfen. Die Jan Lokpal Bill.
Sie stellt Korruption unter harte Strafen. Nachdem er 16 Tage dafür hungerte, wurde das Gesetz akzeptiert. Allerdings mit dem Einwand, dass der Premierminister davon befreit bleibt.

Es ist amüsant, dass eine Regierung Probleme damit hat, sein Oberhaupt unter ein Gesetz gegen Korruption zu stellen.

Anna Hazare sorgt sich, dass man mit dieser Ausnahme wieder schnell alte Verhältnisse herstellen kann: Herr A. versteht sich blendend mit dem Premier, und kann sich deswegen erlauben für die Ehefrau ein bisschen Steuergelder zu sparen. Herr B., der unter A. arbeitet, ist A.s bester Freund, und hätte so gerne einen größeren Fernseher, Frau C. kann den Wunsch ihres Kollegen nur unterstützen, und am Ende hat man wieder den korrupten Schulbeamten mit Geldbörse in Extragröße.


Die Verbreitung der Maoisten in Indien

Montag, 19. September 2011

„Ask me about being famous.“

Ein Augentest

Der "Ask me about being famous"-Junge


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Die Grenze zweier Kulturkreise
Donnerstag und Freitag sind wir mit Sunanda, einer jungen Ärztin, in die Tribaldörfer gefahren. Sunanda katalogisiert dort die Krankheiten der Dorfbewohner, mit dem Ziel zusammen mit IRDWSI im Januar ein Rehabilitationszentrum für diese Menschen zu errichten, die sonst keine medizinische Hilfe bezahlen könnten.
Gleich im ersten Dorf freuten sich die Menschen sehr über das Ankommen unseres Jeeps. Nachdem uns erstmal eine Kuhherde samt Hirte kreuzte, stürmten alle Dorfbewohner von 150 Zentimetern Körpergröße und vor Vollendung des 13. Lebensjahres auf uns zu.
Sie lachten und posierten mit größter Hingabe vor meiner Kamera. Nach vielen Verbeugungen und einigem Händeschütteln ging es dann in Richtung Hauptplatz des Dorfes.
Den unglaublichen Kontrast zu Deutschland realisierte ich vollends, als ich eine Kindergruppe beobachtete, dessen Teil ein kleiner Junge war.
Er musste wohl ein bisschen, zog die Hose herunter, und pinkelte einfach auf die Straße.
Das würde ein deutsches Kind vielleicht auch machen. Dieser kleinen Erleichterung würde allerdings ein cholerischer Anfall seiner Frau Mutter folgen. Auf dem indischen Dorf fand der kleine dafür keinerlei Beachtung.
Man sieht in den Dörfern oft Plakate von UNICEF, auf denen einfache Hygieneroutinen wie Händewaschen abgedruckt sind.
Die NGOs versuchen damit die Wichtigkeit von Hygiene in den Alltag der Menschen zu rücken.

Am Dorfplatz angekommen, ging die Aufnahme der Krankheiten los. Um Gastfreundschaft zu beweisen, gab man uns eine Decke zum Sitzen. Als wir uns setzten waren wir im wahrsten Sinne des Wortes umzingelt, und wir weißen Europäer wurden angeglotzt und glotzten zurück. Die meisten Menschen hatten keine Probleme ihre Leiden preiszugeben, wenn jemand schüchtern war, oder zu krank, um selbst zu sprechen, wurde ihm von den anderen geholfen.
Bis auf zwei Ausnahmen, waren die Krankheiten der Menschen sehr verschieden. In den fünf Dörfern, die wir besuchten, sahen wir Menschen mit Parkinson, deformierten Körperteilen und verschiedenen Lähmungserscheinen. Viele Menschen erfuhren bis jetzt kaum eine Behandlung. Theoretisch steht ihnen eine Rente zu. Diese umfasst sagenhafte 200 Rupien. Das sind 2,50€ und damit kommt man auch nicht in Indien für einen Monat aus.

Worunter die meisten Menschen litten waren Erblindungen und schwere Hörschäden.
 Fast alle Fälle lassen sich auf eine Ursache zurückführen. Wie so gut wie alle Menschen auf der Welt, benutzen auch die Menschen in Orissas Dörfern Salz zum Würzen ihrer Mahlzeiten. Sie benutzen sogar frisches Salz aus den Bergen.
Genau da liegt die schlimme Falle, in die die Bewohner der Dörfer zwangsweise tappen werden.
Das unbehandelte Bergsalz führt auf Dauer zu den Hörschäden und Erblindungen, die fast alle älteren Menschen in den Dörfern plagen.
Selbst Salz ist ein Gut, dass sich die Menschen auf den Dörfern oft nicht leisten können.
In derartige Zustände kann ich als Deutscher nicht hineinversetzen. Mit meinen 100 Euro Taschengeld pro Monat könnte ich in Salz baden gehen.
Endgültig verwirrt war ich, als Sunanda mich auf dem Weg fragte: „Have you got villages like these in Germany too?“ Und meine Antwort dann nur war: No, no, no... no. Absolutly not.“

Das einzige was wir da haben sind Trecker, Kühe, ein paar Felder, Bier und Salz.

Ein Mitglied der Erwachsenengeneration von 2030 (ein kleiner Junge) trug ein Shirt mit dem fetzigem Aufdruck: „Ask me about being famous.“
Ich denke darüber nach, was er wohl sagt, wenn man ihm den Reichtum der Leute, die sich famous nennen und genannt werden, zeigen würde.
Wenn man ihn wirklich fragen würde, wie er es findet, dass Artgenossen in Übersee und teilweise in seinem eigenen Land, viele viele Geldscheine für Taschen hinlegen, auf denen hunderte Male auf braunem Grund die Initialen eines schon längst verstorbenen Franzosen stehen, der seinen Namen wohl sehr schätzte und dies kundtun musste, und er sich noch nicht mal Salz leisten kann.

Viele Europäer, Stadt-Inder und allgemein westlich geprägte Menschen sagen nach längeren, aber doch zeitlich klar begrenzten Dorfbesuchen, das Leben dort sei magisch, urig, pur, und eine echte Lebenserfahrung. In ein paar Wochen werde ich selbst ein solcher Besucher aus Europa sein. Ich bin gespannt, ob ich das dann auch so empfinde. Momentan bin noch sehr skeptisch, ob das Leben dort wirklich so magisch und urig ist.
Momentan sehe ich fast nur die Dinge, die ihnen fehlen. Strom, sauberes Wasser, Bildung. Ich bin gespannt, ob sich mein Fokus in einem Monat verschiebt, und ich spüren kann, was die Menschen dort haben.
Wenn, dann wird es etwas sein, dass ich bis dahin nicht kannte.

Was der „Ask me about being famous.“-Junge wohl nach deutsch-schweigsamer U-Bahn-Fahrt und anschließender Stadtbesichtigung bei einer Currywurst über Berlin denken würde?
"Pure Lebenserfahrung"? Wer weiß. Vielleicht.
Irgendwie sind die Menschen immer vom Gegenteil dessen fasziniert, was innerhalb ihrer Reichweite liegt.

Vielleicht wird der Junge auch später mal die Stimme des stark benachteiligten ländlichen Indiens, die dem Land fehlt, und „Ask me about being famous“ der Slogan einer seiner großen Kampagnen.
Es hat mich wirklich umgehauen, dass der kleine Mann dieses Shirt anhatte. Ziemlich makaber, der Spruch.
Die Menschen hier müssen Kraft entwickeln, gehört zu werden. Und daran arbeitet meine Organisation "Integrated Rural Development Of Weaker Sections In India"
Das scheint Indien wirklich zu gebrauchen. Sonst wird es weiterhin über den Großteil seiner Bevölkerung hinweg entscheiden.