In Jeypore, in der Stadt, die mal Sitz
eines Maharajas war, haben wir einen Diskussionstag über das Verstehen zwischen
Jungs und Mädchen in der Kirche veranstaltet. Understanding between girls and
boys. Das ist hier in Indien ein großes Thema. Es ist ganz und gar nicht normal
mit einem Mädchen durch die Straßen zu ziehen, Händchen zu halten, oder sich
gar zu umarmen. Unter den Christen ist Sex vor der Ehe eine Sünde und die
Hindus machen sowas auch nicht. Die meisten Hochzeiten sind arrangiert. Die
Meinung der Eltern zählt bei der Hochzeit.
Hinter den Hochzeiten in Indien steckt ein
anderes Konzept, als bei den Hochzeiten in Deutschland. Es geht darum Familien
zusammenzuführen, und nicht darum, eine große Liebe zu festigen.
Das Grundkonzept der Familie ist
verschieden. In Indien denkt man, wenn man über die Familie spricht, nicht nur an
Bruder-Schwester-Opa-Mama-Papa-Oma, sondern auch an Tanten und Onkel dritten
Grades, und die angeheirateten Familienmitglieder. Große Familien. Und mit
einer Heirat werden solch große Familien verbunden, deshalb ist es wichtig,
dass zwischen den Familien alles stimmt. Und das würden die Eltern am Besten
wissen.
Und darauf haben viele Jugendliche, nach dem
was ich erlebt habe, keinen Bock mehr. Sie wollen selbst entscheiden, wen sie
heiraten.
Einen festen Freund oder eine Freundin zu
haben ist hier nichts Gewöhnliches, besonders nicht auf dem Land. Doch ganz
selten sind sie auch nicht, die indischen Lovers. Sie geben sich geheimnisvoll.
Die meisten, die eine Beziehung führen, haben unwissende Eltern. Die wissen
nichts davon. Sie treffen sich anscheinend gerne in Parks, diese Lovers. Als
wir in Delhi waren, sind wir ohne Vorahnung in einen Rosengarten spaziert, und
der war voll von Lovers. Hinter jedem zweiten Baum konnte man sie erspähen. Die
Angelegenheit scheint in Indien eine spannende zu sein. In Varanasi gab es ein
Uni-Café, und eine Studentin erklärte mir, da würden nur diese Lovers hingehen,
und das wäre ziemlich eklig.
Seit den 2000ern gibt es in Bollywoodfilmen
offene Kuss-Szenen. Vorher wurde das verblumt. Es gibt hier einen alten Witz.
"Wir verstehen euch Westliche nicht. In euren Filmen sieht man alles, und
trotzdem habt ihr so wenig Kinder. Hier wird nichts davon gezeigt, und trotzdem
haben wir so viele Kinder." Diese Zeiten gehen wohl langsam zu Ende.
Liebespaar-Filme gibt es hier mittlerweile viele. Und die Bollywoodsternchen
sorgen für 1A-Klatschgeschichten. "Seitdem ich fünfzehn war, hatte ich
schon immer einen Freund." Oder "Ich war schon immer ein bisschen
naughty."
Auf der anderen Seite gibt es viele Leute,
die an ihren Traditionen festhalten wollen. Für Hindus gibt es Seiten wie shaadi.com (heißt auf Hindi
"Hochzeit"), bei denen man selber eine Braut oder einen Mann suchen
kann, oder die Eltern einen Partner suchen können. Das kann man einstellen. Genauso
wie man nach bestimmten Kasten, Berufen, Wohnorten, und Einkommensniveaus
suchen kann. Ein junger Mann hat mir erklärt, er wolle gar nichts von Love
Marriages wissen, oder sie verstehen. Er wolle so leben wie Adam und Eva
zusammen, so wie Gott es wolle, und nicht nach seinen Gefühlen. Er wäre auch
schonmal verliebt gewesen, doch dem sei er nicht nachgegangen. Ein anderer
Herr, der schon lange verheiratet ist, erzählte mir, wie er es mit den
arrangierten Hochzeiten sieht. Seine Eltern hätten am Besten gewusst, wer zu
ihm passt, und vor allen Dingen, welche Familien zueinander passen würden.
Außerdem hätten seine Eltern ihn ja schließlich geschaffen, da konnten sie auch
entscheiden, wen er heiratet. Und er durfte die Braut vor seiner Hochzeit
zusammen mit seinen Freunden anschauen.
Als wir im Zug nach Varanasi saßen, trafen
wir einen jungen Mann, der kurz vor seiner Verlobung stand. Er war total
aufgeregt. Spielte die ganze Zeit Tabla auf seinen Oberschenkeln. Er zeigte mir
ein Foto seiner zukünftigen arrangierten Braut auf seinem Handy. Wir fanden
beide, die sah gut aus, die Dame. Und ich hatte das Gefühl, jetzt weiß ich
genauso viel über sie, wie er.
Ein guter Freund erzählte, er wolle
arrangiert heiraten, er vertraue seiner Mutter da voll und ganz. Arrangierte
Hochzeiten gibt es in Indien sowohl unter den Hindus, als auch unter Christen.
Wie die Muslimen die Angelegenheit hier handhaben, weiß ich nicht.
Hochzeiten in Indien sind eine große, große
Sache. Sie werden groß angekündigt. Es wird dafür bezahlt, dass die eigene
Hochzeit im Fernsehen gezeigt wird.
Es gibt riesige, tagelange Feiern, oder
lebenslange Dramen.
In Jeypore war ich auf einer Hochzeit
zwischen einer Hindufrau, und einem Christen. Eine Liebeshochzeit. Mit
Kamerateam. Er bekam den Segen seiner Familie, sie den Segen ihrer Familie
nicht. Sie wird ihn nie ihrer Familie präsentieren dürfen. Ihre Familie
erschien nicht zur Hochzeit.
Neulich ist hier in der Gegend ein Mädchen
weggelaufen, zwei Tage vor ihrer arrangierten Hochzeit. Anscheinend ist sie mit
ihrem Liebhaber durchgebrannt. Auf und davon in eine Großstadt.
Love und Arranged Marriages waren ein Thema
in unserem "Understanding between boys and girls"-Programm.
Es fand in der größten Kirche Jeypores
statt, und wurde in ihrem Namen organisiert.
Das machte uns einen Abend vor dem Programm
nochmal richtig Probleme.
Uns fiel auf, dass es ganz schön krass
werden könnte, wenn wir in der Kirche über voreheliche Beziehungen diskutieren
lassen würden. Für viele indische Christen im Koraput District sind Beziehungen
vor der Ehe eine große Sünde. Diese Lovers. Und für noch mehr indische Christen
im Koraput District ist Sex vor der Ehe eine große Sünde. Auf unserem Programm war
eine Diskussion über diese Lovers. Und erst an diesem Abend sprachen wir
darüber, dass das problematisch werden könnte. Über Lovers in Jeypores größter
Kirche zu diskutieren. Das wäre problematisch mit den ganzen Mamas und Papas
und Pastoren und Omas geworden. Doch das gehört dazu, wenn man weiterkommen
will.
Das eigentliche Problem lag darin, dass
sich die Jugendlichen dem Programm nicht öffnen würden, würden wir sie direkt
mit den ganzen sündlichen Dingen konfrontieren. Wenn wir ein Programm
veranstalten würden, was nicht im Einklang mit diversen Interpretationen der
Texte der Bibel stehen würde, dann würden uns die Jugendlichen nicht zuhören.
Kirche, Bibel und das ganze Christentum
haben für die indischen Christen einen anderen Stellenwert als für Christen in
Deutschland.
In Indien sind sie eine Minderheit. 2008
gab eine blutige Ausschreitungen zwischen Christen und Hindus.
In Jeypore.
Wenn man Teil einer Minderheit ist, dann
identifiziert man sich mit etwas Besonderem. Einer besonderen Gruppe unter
vielen. Wenn man dafür angegriffen wird, dann bindet einen das vielleicht noch
stärker an seine Gruppe. Die jugendlichen Christen in Jeypore sind stolz auf
ihre Religion. Teilweise präsentieren sie ihren Stolz auf ihre Religion so, wie
eine Motorradgang ihren stolz auf ihre Gang zeigen würde. Sie haben Plaketten
auf ihren Motorräden wie "Jesus Saves You". Sie verlinken einen auf
Jesus-Bildern bei Facebook. Sie kommen vorbei und schenken einem die Bibel in
weiß.
In Semiliguda gab es im April ein
christliches Festival mit einer Lautstärke die unseren
Developed-Country-Festivals in nichts nachsteht. Über tausend Leute waren am
Start. Die ersten Reihen haben sich die Jugendlichen klargemacht. Platz zum
Tanzen zu Hallelujah, Praise the Lord und Hossanna gemacht. Da wurden auch
Wunder vollbracht. Taube kamen auf die Bühne und dank der enormen Lautstärke
des Wortes und der Hand des Reverends konnten sie wieder hören.
Und im letzten November kam ein ehemaliger
Bollywoodsänger nach Koraput. Er singt jetzt Gospels. Jesus Jesus Yeah Jesus.
Wir konnten in unserem Youth Discussion
Programme nicht einfach sagen: "Los, geht sünden." Wir konnten nichts
sagen, was vollkommen gegen die Predigten der Jeypore Kirche spricht. Sex vor
der Ehe ist eine Sünde.
In einem Gespräch bis morgens um zwei
fanden wir heraus, dass wir eigentlich gar nichts dagegen sagen wollten. Wir
dachten etwas dagegen. Etwas sagen lassen wollten wir die Jugendlichen. Was sie
sagen wollten, sollten sie sagen können. Es wurde Rat beim Pastor gesucht, was
man machen könne, falls manche Jugendliche gegen die aktuelle Interpretation
der Bibel argumentieren und manche dafür. Der Pastor entschied sich dazu, am
Youth-Discussion-Programme-Tag eine Geschichte über Sünder in zwei Teilen zu
erzählen. In der Halbzeit wurde uns der erste Teil der Geschichte übersetzt. Der
Pastor erzählte sie in Oriya.
Sie ging um einen Geier und einen Metzger. Der Metzger brachte jeden Tag eine Schubkarre Fleisch zu seinem Laden. Der Geier folgte den Metzger jeden Tag. Eines Tages sagte der Geier: "Ich will dein Fleisch." "Kein Problem.", sagte der Metzger. "Ich gebe dir ein Stück Fleisch, dafür musst du mir eine deiner Federn geben." "Kein Problem. Federn habe ich viele.", sagte der Geier. Und so kam er jeden Tag. Er bekam ein Stück Fleisch, und gab eine Feder. Er war glücklich damit. Doch nach einiger Zeit konnte er nicht mehr so gut fliegen. Er hatte kaum noch Federn. Und eines Tages hatte er gar keine mehr. Von nun an war er ein Geier, der nicht mehr fliegen konnte. Er war ein nackter Geier, kahl und rosa.
Aus dieser Geschichte zog der Pastor, dass einen seine Sünden irgendwann einholen und man seine Strafe spüren wird.
Ein toller Start für das Youth Discussion
Programme. Schön einschüchternd. Und danach wurde noch gemeinsam Gebet und
Kirchenlieder gesungen. Ich war sehr aufgeregt. Ich war mir nicht mehr sicher,
ob wir an solch einem Ort über sehr sensible Themen diskutieren konnten.
Als die älteren Leute dann gegangen waren,
konnten wir anfangen.
Meine Gruppe (es gab vier) solllte über die
verschiedenen Beziehungen zwischen Jungs und Mädchen diskutieren. Die Gruppe
war gemischt. Das bedeutete, unsere Sitzung fing mit Anschweigen an. Klasse.
Das hatte ich mir schon gedacht, deswegen wollte ich die Gruppe in viele kleine
Gesprächsrunden aufteilen. Man sagte mir, das sei nicht von Nöten. Man könnte
gemeinsam mit allen ein sehr vertrauliches Gespräch führen. Das Anschweigen
ging weiter. Letztendlich entschieden Nanu (der mit mir zusammen moderierte)
und ich, die Gruppe in Jungs und Mädchen aufzuteilen. Getrennt saßen sie eh
schon. Konzentrieren wollten wir uns erstmal auf eine Beziehungsart. Auf die
Beziehung zwischen Bruder und Schwester. Die Jungs sollten sich darauf einigen,
was eine gute Schwester ausmacht, und die Mädchen sollten überlegen, was einen
Bruder ausmacht. Danach wurden die Zettel wie ein guter Bruder sein sollte, und
wie eine gute Schwester sein sollte, ausgetauscht. Die Jungs laßen den Zettel
der Mädchen, die Mädchen den der Jungs.
Bruder-Schwester Diskussion |
Das Anschweigen war vorbei. Nach dem Zettel
der Mädchen sollte ein Bruder liebevoll sein und sich um seine Schwester
kümmern. Er sollte in der Lage sein, ein Familienoberhaupt werden zu können. Nach
dem Zettel der Jungs sollte eine Schwester
keine knappen Kleider tragen und nicht ohne Erlaubnis zu Fremden gehen.
Da hatten wir schon den ersten Streitpunkt. Die Mädchen fanden, die Jungs
würden nur schlechte Dinge über sie aufschreiben, und Arten, wie eine Schwester
nicht sein sollte. Darüber wurde dann gestritten. Die Mädchen warfen den Jungs
vor, sie würden zuviel Alkohol trinken und nachts durch die Straßen ziehen. Die
Jungs meinten, Mädchen sollten keine knappen Kleider tragen. Zu ihrem eigenen
Schutz. Damit würden sie schlechte Jungs anregen und ihnen könnte etwas
passieren. Das störte die Mädchen. Jungs würden auch anzüglich rumlaufen. Bei
ihnen würde niemand etwas sagen, wenn sie sich westlich kleiden. Nur bei den
Mädchen. Die Diskussion wurde so intensiv, dass die Gruppe bereit war, auf die
Mittagspause zu verzichten und weiter zu diskutieren. Das ist hier sehr
unüblich. Auf die Mittagspause verzichten. Zu einer Lösung der Probleme, die
sie miteinander hatten, kamen sie nicht. Das hatte ich auch nicht erwartet.
Mein primäres Ziel war es, dass sie aufhören, sich anzuschweigen und sagen, was
sie sagen wollten. Sie sollten sich ein bisschen provozieren. Das haben sie
auch gemacht. Und dabei sind sie sich nähergekommen. Ein Junge meinte nach der
Diskussion, er würde seine Schwester sehr gerne umarmen wollen, sie sollten mit
ihren Streitereien aufhören. Das sei allerdings schwer.
Love/Arranged Marriage Diskussion |
Nach den Diskussionen, erzählten alle Gruppen, was sie besprochen hatten, und darüber wurde dann nochmal mit allen diskutiert. Besonders bei der Gruppe "Love and Arranged Marriage". Da haben sich zwei große Lager gebildet. Manch einer sagte, dass man nur bei einer arrangierten Hochzeit garantieren könne, dass die Familien zusammenpassen. Ein anderer fragte darauf: "Und wer kann mir garantieren, dass meine Frau zu mir passt?"
toller bericht!
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