Nachdem wir aus Kolkata wiedergekommen waren, sind wir im Dezember oft nach Putsil gefahren, um die Kinder des Dorfs für die Deutsche Kindernothilfe zu befragen.
Gefragt haben wir ganz Einfaches, wie „Was ist Dein Lieblingsessen...Lieblingsspiel...Deine Lieblingsfarbe?“, „Magst du Deine Schule?“, „Was willst Du später einmal werden?“
Die Kindernothilfe schickt die fertigen Berichte an deutsche Familien, die Partner der KNH sind. Die können dann überlegen, ob sie das Kind unterstützen wollen oder nicht. Wir stellen den Kindern die Fragen, damit sich die Leute auf der anderen Seite der Welt ein Bild von ihnen machen können.
So gut wie alle Kinder sind extrem schüchtern, und sagen kaum etwas von sich aus. Sie sprechen selbstverständlich nur Kuwi oder Oriya, weswegen wir Übersetzer brauchten.
Es ist schade, dass die Kinder so schüchtern sind, das macht das Befragen schwierig.
Die Aufgabe gefällt mir trotzdem sehr. Es ist schön zu wissen, dass das Kind, was einem da gegenübersitzt, unterstützt wird, wenn der Bericht erst mal fertig ist.
Tja, das war vor Weihnachten, und damit werden wir jetzt auch im Januar fortfahren.
Ihr werdet euch sicher fragen, wie und, ob überhaupt, man im fernen Indien Weihnachten feiert. Das fragte ich mich auch, bis zum zwölften Monat des Jahres. Das erfahrt ihr hier:
In der Region, in der wir wohnen, leben viele Christen. Viele Mitarbeiter von wida sind Christen.
Unsere Nachbarn dekorierten ihren Vorgarten mit Weihnachtsschmuck, wir bastelten einen deutsch-indischen Adventskranz. Außerdem musste ein Weihnachtsbaum für unser Haupthaus her.
Eines Vormittags zogen wir mit unseren Köchen und dem Gärtner los zum anderen wida Campus, und blieben dort vor einer großen Fichte stehen. Ich wunderte mich, dass derartiges in Indien wächst, und erachtete diese 10 Meter hohe Fichte als etwas zu groß für einen Weihnachtsbaum.
Tja, da hatte ich die Kletterkünste unseres Kochs noch nicht gekannt. Er kletterte dort einfach mit einem Beil hoch, fällte die zweimeterfünfzig hohe Spitze, und fertig war der Weihnachtsbaum. Das hätte ich mal filmen sollen, ich staunte.
Der wurde dann dekoriert und dank der wunderbaren Lichterketten erfreuten wir uns eines Baumes, der jeden Abend in schrillsten Farben erstrahlte. Außer in der Stromausfallzeit von 18:00 bis 19:30, da nicht. Die Zeit hat sich zum Neuen Jahr geändert. Eine wunderbare Überraschung. 17:40 bis 19:05. Die alte Zeit gefiel besser.
Am Morgen des heiligen Abends gings dann rüber nach Putsil, in mein Dorf. Dort verbrachten wir die Weihnachtstage.
Wenn man am 24. Dezember mit einem Jeep, der aussieht wie ein Krankenwagen, bei 25 Grad über rote Pisten auf dem indischen Land brettert, dann fühlt sich das nicht unbedingt nach Weihnachten an, spannend, aber nicht besonders weihnachtlich, eher nach August und nach Abenteuer.
Das änderte sich schon ein wenig, als wir im Dorf ankamen.
Die Häuser wurden neugestrichen, das Dorf komplett durchgefegt, es wurde neuer Kuhdung auf die Hauptstraße aufgetragen. Alles wurde auf Vordermann gebracht. Mit indischen Farben. Mädchen und Frauen trugen ihre allerbesten Kleider. Am Hauptplatz des Dorfs wurde ein offenes Festzelt gebaut, das Dach gestickt aus Saris. Daran wurden Mangobaumblätter gehängt, ein alter Brauch der Adivasis. So sollen ihre Wünsche in Erfüllung gehen.
Wir schlenderten etwas durch das Dorf, ich begrüßte die Leute, die ich kannte.
Am späten Nachmittag gab es dann einen kleinen Gottesdienst. Es wurde gesungen. Die Lieder, obwohl auf Oriya, kamen uns bekannt vor. Es waren deutsche Melodien. Lieder wie „Oh Du Fröhliche“. Gezeigt und übersetzt wurden ihnen die Lieder von deutschen Missionaren vor ein paar Jahrzehnten. Ich frage mich dabei, auf welche Art und Weise. Auf welche Art und Weise wurden diese Menschen überhaupt zum Christentum gebracht? Das möchte ich noch herausfinden. Mir war etwas komisch zumute, als die Menschen von Putsil diese deutschen Weihnachtslieder sangen. Auf der einen Seite erinnerte es mich an mein zu Hause, das war schön. Auf der anderen Seite war es einfach seltsam.
Ihre ursprüngliche Kultur ist so anders. Vor einiger Zeit richteten sie ihr Leben noch nach Naturgöttern aus. Die Missionierung ist gerade einmal 80-100 Jahre her.
Naja, im Jahre 2011 ist der christliche Glaube in Putsil jedenfalls fest verankert. Die Menschen fühlen sich wohl im Christentum.
Zum Ende des Gottesdienstes war dann auch in meinem Kopf Weihnachten angesagt. Alle zündeten Kerzen an, man gab sich die Hand, und die Familien spendeten der Kirche Reis.
Abends ging das Tanzen los. Demsa! Das war was. Darauf freuten wir uns schon seit Wochen. Der Abend war schön. Die Putsilmenschen hatten eine Musikanlage von beachtlicher Größe aus Semiliguda gemietet, die wurde auf volle Lautstärke gebracht.
Wir tanzten Demsa bis in die Nacht hinein, und Prem Patro, der Dorfpräsident, gab uns die passende Bekleidung, die nur zu großen Festen getragen wird. Ich bekam Pfauenfedern auf den Rücken geschnallt, und ein schwarzes Tuch um die Stirn.
Der Pfau ist der Nationalvogel Indiens, und mit dem bis in die Nacht zu tanzen, das war schon was.
Um Zwölf waren die meisten dann schon gegangen, nur noch Gabriel (unser deutscher Freund aus Kolkata), ein paar Mädchen und ich waren noch auf den Beinen, in Bewegung.
Wir tanzten ein bisschen weiter, und die Mädchen wollten sehen, wie wir „western style“ tanzen. „Breakdance, do some breakdance!“
Joa, das war für uns leider nicht zu realisieren. Für die Mädchen war das, denke ich, ziemlich eigenartig, dass wir das nicht konnten. Jeder Junge, der 16 Jahre auf diesem Planeten verbracht hat, und in diesem Dorf lebt, hat einen Sixpack und auch sonst ordentlich, ordentlich Muskeln.
Deutsche Stadtkinder sind dagegen echte Schwachmaten, da hilft auch das Pumpen nichts.
Naja, wir bewegen uns dann irgendwie zu „western“ Musik, die aus Indien kam, und den Kindern hat’s gefallen. Wir fanden’s witzig.
Um halb zwei war dann Schluss für die Mädchen, wir hatten keinen Bock zu schlafen, und ich sah in der Nacht am Himmel 15 Sternschnuppen. Die ersten, die ich überhaupt je sah.
Das Schlafen wurde eisig. Putsil liegt in den Bergen. Ohne Heizung und Fenster schlafen, bedeutet frieren. Aber richtig.
Am nächsten Morgen sind wir aufgestanden, am nächsten Morgen haben wir uns gewaschen, am nächsten Morgen haben wir uns die Zähne geputzt.
Was man eben morgens so macht. Nur das wir in den Eastern Ghats aufgewacht sind, uns außerhalb des Dorfs an einem Hügel gewaschen haben und wir uns die Zähne mit Stöckern geputzt haben.
Diese Stöcker sind Zahnbürste für die meisten Inder, die auf dem Land leben. Es sind Stöcker des Niembaums.
Man nimmt also diesen Niemstock, puhlt am Ende der Wahl die Rinde ab, und kaut darauf solange herum, bis das Holz bürstenartig weich wird. Mit diesem bürstenartig-weichen Ende kann man sich wunderbar die Zähne putzen. Die Wirkung des Stocks ist wissenschaftlich erforscht. Die Säfte des Holzes bekämpfen Karies, außerdem ist es gut für das Zahnfleisch.
Die Bewohner von Putsil haben fast alle ziemlich gute Zähne. Nur das Paankauen macht die Zähne kaputt, da kann man sich mit dem ganzen Sortiment von Dr. Best die Zähne putzen, es wird nicht helfen.
Der Niembaum hat so einiges zu bieten im Bereich der pflanzlichen Medizin, er enthält über 130 verschiedene Wirkstoffe. Er soll gegen Diabetes wirken, gegen Lepra und wird in Indien seit über 2000 Jahren verwendet. Er ist grundlegender Bestandteil der Ayurveda.
Und damit habe ich mir die Zähne geputzt, das war schon was.
Nach dem vierstündigen Gottesdienst hat ganz Putsil mittags zusammen gegessen, das fand ich schön. Es gab Reis mit Kuhfleisch. Kuhfleisch isst man hier extrem selten. Die Hindus essen es gar nicht, und in Putsil gibt es Kuh nur zu großen, großen Feiertagen.
Als wir vormittags durch die Gegend geschlendert sind, haben wir Teile der Schlachtung gesehen. Die eigentliche Schlachtung nicht, aber das Auseinandernehmen danach. Die Muskeln haben noch gezuckt. Die Kühe wurden mit einem Axtschlag auf den Hinterkopf getötet, und danach mit großer Sorgfalt zerschnitten. Die Haut wurde so aufgeschnitten, dass man sie als Unterlage für die Kuh verwenden konnte.
Für das Mittagessen wurden große Töpfe aufgebaut. Reis für 500 Leute galt es zu kochen. Als das Essen fertig war, stellten sich alle Dorfbewohner an, jeder mit seinem Aluminiumteller, und bekam etwas. Das fand ich weihnachtlich.
Zum Mittagessen wurde uns eine echte Kostbarkeit angeboten: Biski – Kuhgehirn. In Anbetracht dessen, dass nur zwei Kühe geschlachtet wurden, war das Fleisch eine wahre Rarität. Und diese Rarität wurde den Gästen angeboten. Uns. Mhmm.
Ich habe ein bisschen davon probiert, es ist aber wirklich nicht mein Fall. Schwer zu kauen, der Geschmack ist nicht besonders.
Wenn man sich versteht, kann Dorfleben wirklich schön sein. In Putsil scheint das der Fall zu sein. Die ganzen Weihnachtstage über wurde zusammen gefeiert. Morgens, mittags und abends.
In Deutschland war ich mir sicher, dass ich ein ziemlicher Stadtmensch bin. Dörfer fand ich langweilig. Das Leben in Hamburg erschien mir ein kleines Bisschen spannender. Dass ich ganz am Rand von Hamburg wohne, und Menschen aus Altona meine Gegend wohl schon für dörflich halten, muss ja keiner wissen.
Hier in Indien sehe ich das mit dem Stadtleben etwas anders. Auf den Dörfern, die ich hier kennengelernt habe, kann jeder überall ein- und ausgehen, man hilft sich bei der Ernte, man teilt, man tanzt zusammen.
Außerdem ist das Leben in einer indischen Stadt etwas anders, als in einer deutschen. Das habe ich schon erfahren.
Das Weihnachtsfest endete mit einer weiteren genialen Tanznacht, die für mich besonders lustig war, und einer großen Kokosnussversteigerung zum Wohle der Kirche von Putsil. Ich habe mir eine für siebzig Rupien ersteigert. Das war die teuerste Kokosnuss, die ich hier in meiner Zeit jemals haben werde und gehabt habe. Normalerweise kosten die Zehn. Die Versteigerung war lustig, teilweise richtig hitzig. Mit den siebzig Rupien kam ich da noch gut weg.
Nach der Versteigerung wollte man uns mit Palmenwein abfüllen, was man mit mir aber nicht geschafft hat, da ich mir eine zweistündige Pause erlaubte. Da waren wohl Nüsse im Abendessen, ich bekam eine Allergie, deswegen erlaubte ich mir eine Auszeit. Nach der kleinen Erholung ging es mit dem allergenen Restrausch zurück zum Demsatanz, der diese Nacht noch größer war. Die älteren Männer machten ein Feuer und trommelten stundenlang den Demsarhythmus vor.
Da die meisten Inder etwas kleiner sind als ich, sind auch ihre Hausdächer auf den Dörfern bedeutend niedriger, sodass ich mir wunderbar den Kopf stoßen konnte. Ich war so im Tanz und ein bisschen in meiner Allergie und dem Palmenwein, dass ich erst mal weitertanzte, ich musste ja zwei Stunden Pause aufholen.
Jetzt erinnert eine kleine Narbe an der Birne an mein indisches Weihnachten in Putsil.
Es war komplett anders, als das, was ich aus Deutschland kenne.
In Putsil wurde Weihnachten nicht still und besinnlich begannen, mit Geschenken, die man am 23. noch in heftigster Hektik erhaschte.
Es wurde gefeiert, mit Musik bis sechs Uhr morgens und langem, langem tanzen.
Ich mag beides.
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