Dienstag, 25. Oktober 2011




Erster Abend.
Die letzten sieben Tage (0,000943 % meines Lebens) habe ich in einem Dorf namens Putsil verbracht. Putsil liegt 40 Minuten Offroadfahrt entfernt von Semiliguda, wunderschön geschützt von saftig grünen Hügeln, und am Fuß von Orissas höchstem Berg, dem Deomali.
100 Familien leben im Dorf. Der Großteil von Putsil gehört einem Stamm der Ureinwohner Indiens an, den Adivasis. Der Stamm der Einwohner Putsils heißt Kondh, ihre Sprache Kuwi.
Nur eine der Familien gehört nicht den Adivasis an, sie gehört zu den Dalits, den Kastenlosen, die sich selbst „die Gebrochenen“ nennen.
Dalits sind ursprünglich Hindus.
Adivasi folgen einem Naturglauben. Ihre Götter haben sich nicht im Himmel niedergelassen, sondern in den Bergen.

Allerdings begegnete ich bei meiner Ankunft weder Hindus noch Anhängern einer Naturreligion. Putsil ist 100% christlich. Das erste, was man vom Dorf sieht, ist die Kirche. Die Gemeinde ist noch recht jung, die Menschen sind vor 40-60 Jahren konvertiert. Damals kamen Leute aus meinen Kulturkreis, um sie zu überzeugen, dass das Christentum die bessere Wahl sei. Wie sie das gemacht haben weiß ich nicht.

Als ich ankam, wurde ich erst mal vom Dorfpräsidenten begrüßt. Er gab mir einen kurzen Kuwicrashkurs. Weiterlesen:

„Ha-e“ heißt „ja“, „a-e“ „nein“; „Nei mangi ki?“ heißt „Wie geht’s?“, die Antwort darauf ist im Normalfall „Nehi ma-i.“; zur Begrüßung sagt man „Joharro“, dass ich allerdings jedes Mal falsch aussprach und lieber bei meinem „Namasskaar“ blieb; „vamu“ bedeutet „komm“, „hanno de“ „geh“/“gehen“. Und wenn man dann tatsächlich geht, sagt man „Karma adu!“ – „Mach dir keine Sorgen!“.

Falls du, lieber Leser, jetzt in die weite Kuwiwelt ziehen willst, um dich auszudrücken, muss ich dich wohl ein bisschen enttäuschen, denn Kuwi wird in jedem Dorf ein bisschen anders gesprochen.

Gleich von der ersten Minute an genoss ich ein gewisses Ansehen, weil die Menschen wussten, dass ich vom Nordelbischen Missionszentrum geschickt wurde.
Putsil hat dem NMZ viel zu verdanken. Ein paar Einwohner konnten so Deutschland besuchen, was dazu führte, dass ich gleich am ersten Abend das Fotoalbum eines Besuchs in Hamburg bestaunen durfte.
Der junge Mann, der mir die Fotos zeigte, war vor ein paar Jahren in meiner Heimatstadt und davon völlig hin und weg gewesen.

Er war ein verdammt guter Erzähler mit einer kräftigen, tiefen Stimme und schwärmte auf einer Mischung aus Oriya und Englisch besonders vom Michel. So etwas wie diese Kirche, so eine große Stadt wie Hamburg, das hatte er noch nie gesehen. Und während er so erzählte, und ich die Kekse aß, die man mir gab, wanderte mein Blick durch sein kleines Haus an der Hauptstraße von Putsil. Es war sehr klein, es bestand aus zwei Zimmern – Küche und Wohnungsbereich – hatte aber für ein indisches Dorf eine normale Größe.
Hier lebt der junge Herr mit seiner Frau und zwei Kindern.
Die Häuser in Putsil waren sich alle sehr ähnlich. Jedes Haus, das ich von innen sah, hatte eine türkise Wandfarbe, niedrige Decken, bestand von innen und außen aus -  abgesehen von der Farbe –nacktem Zement.

So typisch wie sein Haus war, bereiteten mir besonders die Eingänge große Freude. Ich stoß mir an ihnen regelmäßig den Kopf, und so war nach dem Ein- und Ausgehen 100 prozentige Wachheit gewährleistet. Die Häuser wurden sehr offensichtlich für eine andere Körpergröße als der meinigen konzipiert.

Während ich so meinen Blick schweifen ließ, fiel mir auf, wie spärlich sein kleines Heim eingerichtet war. An der Wand hingen eine Uhr, ein paar Klamotten und ein Kalender der State Bank of India.
Es war erst früher Abend, und so lag auf den zusammengeschobenen Betten noch eine Tagesdecke, gewebt aus alten Plastikzementsäcken.

Fast alles andere, was die Familie besaß, befand sich in einer einzigen Stahltruhe. So auch das Fotoalbum.
Eines der wenigen Dinge ihres Besitzes, dass nicht Teil des Strahltruheninhalts war, war ein Schnurtelefon.

Seine Existenz bemerkte ich erst, als es kurz klingelte. Ich sah mich um, und der junge Mann öffnete eine Telefonoriginalverpackung (an dieser Stelle gilt der Dank eBay – so ein wunderschönes Wort hätte ich ohne sie nie benutzt), die prominent auf der Stahlhaushaltstruhe lag, und holte das Schnurtelefon heraus, um ranzugehen. Niemand war zu hören, und so packte er das Telefon mit größter Sorgfalt wieder ein, und schloss die Verpackung.
Mir schien es, als würde er das Telefon, seine Verpackung und den Inhalt der Stahltruhe wie einen großen Schatz behandeln.
Manchmal sind es solch kleine Gewohnheiten, in denen man viel über Menschen lernt.
Dieses Telefon im Karton auf der Stahltruhe ging mir jedenfalls nicht mehr aus dem Kopf.

Meine kleine Begutachtung wurde allerdings schnell beendet, als der junge Mann lachend zu mir sagte: „My house big problem, big problem.“ Ich antwortete: „No, no, it’s really a nice place.“
Doch eigentlich traf er damit ziemlich genau was ich in diesem Moment dachte, was aber nicht bedeutete, dass ich mich in seinem Haus unwohl fühlte. Dafür war der junge Herr um einiges zu gastfreundlich.


Abends haben Marshal (Ein Mitarbeiter meiner NGO, er hat mich in dieser Woche begleitet) und ich dann unser Nachtlager im Community Center aufgeschlagen. Für unsere Moskitonetze haben wir eine lustige Halterung bestehend aus Stuhl, Fenster und Deckenbalken gefunden, an denen wir die Netze befestigen konnten.

Marshal hat sich dann für die Nacht dick eingepackt, was ich etwas belächelte, da es tagsüber fast 30° waren. Weichei, dachte ich.
Nachts allerdings bereute ich dann mein übliches Schlafen in Boxershorts und T-Shirt. Ich bin sieben, acht mal aufgewacht, weil ich so verdammt gefroren habe.

Die anderen sechs Nächte wurden dann im Pullover geschlafen. Das ging gut.

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